Gedenken in Lichtenhagen

„Mutige Bürger, die nicht wegschauen“ forderte Gauck auf der Gedenkveranstaltung anlässlich der fremdenfeindlichen Ausschreitungen vor 20 Jahren in Lichtenhagen

26. August 2012, von
Gerhard Schöne mit Kinderchor auf der Gedenkveranstaltung in Lichtenhagen
Gerhard Schöne mit Kinderchor auf der Gedenkveranstaltung in Lichtenhagen

Um drei Uhr fällt die Barriere. Die Besucher der Gedenkveranstaltung „Lichtenhagen bewegt sich“ können endlich nach vorn zur Bühne rücken und mit Gerhard Schöne und Hunderten Chorkindern ein Familienfest mit fröhlichen Kinderliedern aus aller Welt auf der Wiese am Sonnenblumenhaus feiern. Zuvor wurden sie durch einen Doppelzaun auf Abstand gehalten.

Der exklusive Bereich unter den VIP-Zelten, mit Polsterstühlen und Gratiserfrischungsgetränken, ist den geladenen Gästen vorbehalten. Für die Sicherheit des Bundespräsidenten zeigen viele Zaungäste Verständnis, dennoch verwundert das Ausmaß. Sogar von „Zweiklassengedenkveranstaltung“ ist die Rede, die selbst einigen Bundespolitikern und Landesministern nicht passt und die sich stattdessen zum Stehpublikum an den Bierständen gesellen.

Bundespräsident Joachim Gauck in Lichtenhagen
Bundespräsident Joachim Gauck in Lichtenhagen

Hier allerdings sind die Reden von Oberbürgermeister, Minister- und Bundespräsident leider kaum zu hören. Schade, denn vor allem die Worte des Bundespräsidenten und Rostockers Joachim Gauck stoßen auf großes Interesse. „Es ist Vergangenheit“, beginnt Gauck seine Rede, um im nächsten Atemzug von der Gegenwart zu sprechen, „die unsere Wachsamkeit, unsere Entschlossenheit, unseren Mut und unsere Solidarität braucht.“

Auch – vornehmlich linksautonome – Gegendemonstranten haben sich unter das Auditorium gemischt. „Rassismus tötet“ steht auf einem entrollten Transparent und „Heuchler“ -Schilder ragen in die Höhe. Während sich einige, die sich dadurch gestört fühlen, heftige Diskussionen mit den Gegendemonstranten liefern, setzt Joachim Gauck seine Ansprache souverän fort.

„Heuchler“ - Gegendemonstranten bei der Gauck-Rede in Lichtenhagen
„Heuchler“ - Gegendemonstranten bei der Gauck-Rede in Lichtenhagen

„Wo blieb die Staatsmacht?“, fragt Gauck, wohl wissend, dass Politik und Staat vor 20 Jahren kollektiv versagten. „Wenn unsere Demokratie Bestand haben soll, muss sie auch wehrhaft sein“, bekräftigt er, dass sie sich das Gewaltmonopol niemals aus der Hand nehmen lassen dürfe und fordert gleichzeitig „mutige Bürger, die nicht wegschauen“. „Wir fürchten euch nicht“, ermunterte er, Rechtsextremismus offen entgegenzutreten: „Wir sind stark! Unsere Heimat kommt nicht in braune Hände!“

Mit der zentralen Gedenkveranstaltung „Lichtenhagen bewegt sich“, die von den Fraktionen der Rostocker Bürgerschaft und zahlreichen Rostock Vereinen, darunter Bunt statt Braun, initiiert wurde, endet das Erinnerungswochenende anlässlich des 20. Jahrestages der Ausschreitungen in Lichtenhagen.

Eine Eiche soll vor dem Sonnenblumenhaus an die ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Lichtenhagen erinnern
Eine Eiche soll vor dem Sonnenblumenhaus an die ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Lichtenhagen erinnern

Am Vormittag hatten sich bereits mehr als eintausend Teilnehmer einer Sternradtour von zwölf verschiedenen Standorten aus nach Lichtenhagen auf den Weg gemacht. Zum Gedenken an die Ausschreitungen wurde am Sonnenblumenhaus anschließend ein 20 Jahre alter Baum gepflanzt. Dass es sich dabei um eine Eiche handelt, blieb aufgrund ihrer Symbolik nicht unumstritten.

Schon am Samstagnachmittag zog ein Demonstrationszug von Lütten Klein zum Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen – mehr schwarz als bunt und eher laut statt leise. Zu dieser Demonstration hatte das Bündnis „20 Jahre nach den Pogromen – Das Problem heißt Rassismus“ aufgerufen, das aus Antifagruppen, Gewerkschaften, Jugendorganisationen von Parteien, Einzelpersonen und Vereinen aus verschiedenen Bundesländern besteht.

Das Problem heisst Rassismus - Demonstrationzug nach Lichtenhagen
Das Problem heisst Rassismus - Demonstrationzug nach Lichtenhagen

Neben Rostockern waren auch zahlreiche Aktivisten aus Hamburg, Berlin und anderen Städten in unsere Hansestadt gekommen. Doch ihnen geht es nicht nur um die „Schandverbrechen“ von vor 20 Jahren. Mit Losungen wie „No boarder, no nation, stop deportation“, „Kein Mensch ist illegal – Bleiberecht überall“ werden Asyl- und Bleiberecht ebenso wie das Asylbewerberleistungsgesetz thematisiert.

Wenige Stunden zuvor brachte das Bündnis bei einer Kundgebung auf dem Neuen Markt eine Gedenktafel an einem Nebeneingang des Rostocker Rathauses an. Die Hamburgerin Cornelia Kerth von der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“ bezeichnet sie als sichtbaren „Anfang für ein dauerhaftes Gedenken in der Stadt“. Bei der Tafel handelt es sich um eine Nachbildung einer Gedenktafel, die bereits 1992 durch die französische Gruppe „Söhne und Töchter der deportierten Juden Frankreichs“ um Beate Klarsfeld installiert, aber kurz darauf wieder abgenommen wurde.

Cornelia Kerth bringt die Gedenktafel am Rathaus an
Cornelia Kerth bringt die Gedenktafel am Rathaus an

Cornelia Kerth kritisiert, dass 20 Jahre lang nicht darauf reagiert wurde, dass es diese Tafel gibt. Sie erklärt es sich damit, dass „sehr viele nach diesem Pogrom leider nicht entsetzt darüber gewesen seien, was den Menschen in der ZASt und den Vietnamesen angetan wurde, sondern das Rostock mit solchen Bildern in den Schlagzeilen war“. Das Original gilt derzeit im Rathaus als verschollen. Auch bei den Vorbereitungen zu dieser Kundgebung sei „uns eine unglaubliche Kälte und Widerstand entgegengeschlagen, insbesondere auch von dem Bündnis Bunt statt Braun“, beklagt die Aktivistin.

Verdrängen, vergessen, verharmlosen oder gedenken, erinnern und mahnen – spätestens 2017, wenn sich die fremdenfeindlichen Ausschreitungen von Lichtenhagen zum 25. Mal jähren, werden sich die Rostocker erneut mit der Geschichte auseinandersetzen müssen.

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