Sherko Fatah stellt seinen Roman „Ein weißes Land“ vor
Erste Lesung der Literatour Nord im Jahr 2012
11. Januar 2012, von Andre
Schon wieder ein Buch über den Nationalsozialismus? Ja und nein. Denn der neue Roman „Ein weißes Land“ von Sherko Fatah spielt zwar auch zu großen Teilen im Berlin des Zweiten Weltkriegs, jedoch dient dem Autor das Geschehen hauptsächlich als Kulisse für einen spannenden Abenteuerroman. Diesen stellte er bei der vierten Lesung der Literatour Nord 2011/2012 in der anderen buchhandlung vor.
Einen großen Pluspunkt konnte der Autor schon zu Beginn der Lesung verbuchen. Anders als bei den anderen Veranstaltungen der Literatour Nord hatte man gestern das Gefühl, durch die Lesung geführt zu werden. Sherko Fatah gab zu Beginn eine Einführung in die Geschichte und gab auch nach jeder Passage einen Überblick, wo sich die Zuhörer gerade in der Handlung befinden. So konnte man ihm und Hauptheld Anwar sehr gut folgen.
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Dieser beginnt sein Abenteuer im Bagdad der 30er Jahre. Dort wächst er in schwierigen Verhältnissen auf und gerät immer wieder in gefährliche Situationen und an zwielichtige Personen. Die erste große Wendung nimmt Anwars Geschichte dann im Jahr 1941. In diesem Jahr kommt er im Gefolge des Großmuftis von Jerusalem nach Berlin und erlebt doch eine für ihn fremde Welt – die des Nationalsozialismus. Die letzte Station ist ein Lazarett, in das der Protagonist nach einem Zwischenfall im Krieg an der Ostfront gebracht wird.
Sherko Fatah mischt in seinem Buch geschickt Wahrheit und Fiktion. So sind Orte, Handlungen und Personen historisch korrekt, die Geschichte um Anwar jedoch fiktional. Was im ersten Moment jedoch nach ganz viel Politik klingt, ist in Wahrheit ein großes Abenteuer. Immer wieder lernt Anwar neue Orte und Kulturen kennen, trifft spannende Menschen, erlebt Freundschaft und natürlich auch die Liebe und Gefahren.
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Kontrovers geht es teilweise auch in dem Buch zu. So erlebt der Leser aus den Augen Anwars ein Treffen des Großmuftis mit Heinrich Himmler. Diesen lässt der Autor dann auch die Idee des „weißen Landes“ äußern. Ein Land, das durch Zerstörung wieder bei null anfangen kann, befreit von allem „islamischen Menschentier“. Zum Schluss urteilt der Hauptheld: „Himmler war mir unheimlich, den Führer mochte ich lieber.“
Dieser Abschnitt sorgte bei einer Lesung in Lübeck für eine Diskussion im Publikum, inwieweit man Himmler überhaupt als literarische Figur auftreten lassen dürfe. „Ich glaube die Leute haben die Autorenmeinung mit der Figurenrede verwechselt“, stellte der Autor fest. Deshalb betonte er noch einmal explizit, dass die Schilderung Himmlers rein fiktional ist und nichts mit seiner Meinung zu tun habe. „Die Leser sollen versuchen, die damalige Zeit mit den Augen Anwars zu sehen.“
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Sowohl um die Hauptfigur als auch die Schwierigkeiten ein Buch über eine Zeit zu schreiben, die man als Autor selbst nicht mehr erlebt hat, ging es im anschließenden Gespräch mit Literaturprofessor Lutz Hagestedt. Dieser betonte, dass sich der Held der Geschichte gegen seinen Autor durchgesetzt habe. Fatah hat Anwar bewusst mit vielen negativen Charakterzügen ausgestattet und trotzdem erreicht er die Herzen der Leser. Gerade in der Vermischung seines „dummen“ Helden mit der Zeit des Nationalsozialismus sieht der Autor den besonderen Reiz des Romans: „Anwar ist zu dumm, um den Nationalsozialismus zu reflektieren – daher muss es der Leser tun.“
Die nächste Lesung übernimmt in zwei Wochen Gregor Sander, der seinen Roman Winterfisch präsentiert. Wünschenswert, dass dieses Mal mehr Zuschauer den Weg ins Literaturhaus finden, als bei seiner letzten Lesung im März 2011.